Malerei als Höhlengleichnis
Dr. Harry Lehmann
Es ist oft ein kleines Detail, an dem sich ein Kunstwerk dem Betrachter erschließt. So ist es mir auch mit dem Werk von Edite Grinberga ergangen, als ich bemerkte, dass auf einem Bild, auf dem ein Konzertflügel zu sehen war, der dazugehörige Klavierhocker fehlt. Es schaut nicht danach aus, als ob das Instrument überhaupt zum Spielen benutzt wird. Folgt man dieser ersten Eingebung, dass die dargestellten Gegenstände aus ihren Gebrauchskontexten herausgelöst wurden, dann wird man in den Schattenbildern viele solche fehlenden Details finden: So haben die Fenster und Türen keine Griffe, die Geigen und Celli sind ohne die dazugehörigen Bögen gemalt; ein Stuhl ist auf die Seite gekippt; der Boxsack hängt nicht von der Decke, sondern liegt mit zusammengerolltem Seil am Boden; ein Sessel ist mit einem weißen Tuch verhüllt und ein Kinostuhl steht herausgelöst aus der Sitzreihe einzeln im Raum. Auf den Gemälden werden also Dinge, die im weitesten Sinne etwas mit Kultur zu tun haben, als dysfunktionale Objekte stilisiert. Sie scheinen ihren Sinn und Zweck auf merkwürdige Weise eingebüßt zu haben. Sie wirken schön, verloren und nutzlos in den Räumen und verbreiten um sich eine Aura der Melancholie – eine Art Traurigkeit darüber, dass mit diesen Dingen etwas unwiederbringlich zu Ende gegangen ist. Verstärkt wird dieser Eindruck des Flüchtigen durch einen extrem feinen Farbauftrag. Zum Teil schimmert die weiße Leinwand durch die halbtransparenten Flächen, was die ephemere Wirkung der Bilder noch einmal erhöht.
Was als Nächstes auffällt, ist die Auswahl der Gegenstände, die dargestellt werden. Es handelt sich um Bücher und Musikinstrumente; um Bildermappen, Reproduktionen von Gemälden; um alte Lederkoffer, Reisepässe, einen Boxsack, Ballettschuhe, Schlittschuhe oder einen ausrangierten Kinostuhl. Was haben ein Cello, ein Boxsack und ein Reisepass miteinander zu tun? Und vor allem: Weshalb werfen all diese Dinge diese scharfkantigen Schatten in den Raum? Wenn man sich solche Fragen stellt und sich weiter in die Eigenlogik der Bilder hineindenken will, dann ist es unerlässlich, auch das Konzept zu analysieren, das dem Werk zu Grunde liegt.
Bei Edite Grinberga gehören zum künstlerischen Konzept vor allem die aufwendigen Vorbereitungen, die dem eigentlichen Akt des Malens vorausgehen und für die gesamte Werkserie verbindlich sind. Am Anfang steht die Auswahl eines Innenraumes, in dem es bei entsprechender Sonneneinstrahlung auf den Wänden und Fußböden zu einer starken Schattenbildung kommt. Die Schatten, welche sowohl die Fenster und Fensterkreuze als auch die im einfallenden Licht stehenden Gegenstände werfen, sind das auffälligste Merkmal dieser Bilder; sie sind aber nur deshalb so markant, weil die Räume hierfür extra hergerichtet wurden. So werden die Fußböden mit hellem Papier ausgelegt und künstliche Wände in den Innenräumen errichtet. Zum Teil wird das einfallende Licht mit Spiegeln eingefangen und umgelenkt, so dass auch komplexe und schwer entschlüsselbare Schattenspiele entstehen. In einem dritten Arbeitsschritt werden diese arrangierten Lichtinterieurs zu unterschiedlichen Zeitpunkten fotografiert. Und schließlich wird am Computer aus dieser Fotosammlung eine Auswahl der ästhetisch prägnantesten Bildausschnitte vorgenommen, die zu künstlichen Bildräumen zusammengesetzt werden. Erst der Ausdruck dieses digital bearbeiteten Bildes wird dann als Vorlage für die Gemälde benutzt.
Musikinstrumente, Bücher, Möbel und Gegenstände des alltäglichen Lebens waren auch schon im klassischen Stillleben ein beliebtes Sujet. Gewöhnlich repräsentierten sie das Lebensgefühl, den sozialen Status und das Wertesystem einer gesellschaftlichen Klasse oder Schicht. In Edite Grinbergas Bildern hingegen zeugen die Dinge eher von einer Welt, die im Verschwinden begriffen ist. Die meisten abgebildeten Objekte sind ›Bildungsgegenstände‹, also Dinge, mit deren Hilfe sich das Subjekt durch beständiges Üben, durch Fleiß und Disziplin als menschliches Wesen zu formen und zu vervollkommnen versuchte. In ›Bildungsgegenständen‹ manifestiert sich ein humanistisches Perfektionsideal. Es sind Symbole einer bürgerlichen Welt, in der man noch einen Kanon von Klassikern las, ein Musikinstrument erlernte und die Mädchen beim Tanz die Körperhaltung fürs spätere Leben einstudierten. Selbst dem alten Reisekoffer aus Leder und den gemalten Reisepässen haftet noch das Versprechen an, dass man in der Ferne seine eigenen Grenzen überschreiten könne.
Viele solcher ›Bildungsgegenstände‹ lassen sich auch heute noch in den Städtequartieren finden, aber sie haben ihren Sinn und Zweck in der Kultur eingebüßt; sie sind – wie in Edite Grinbergas Bildern – funktionslos geworden: Wer ein Instrument lernt, strebt eine extrem anspruchsvolle künstlerische Karriere an oder betrachtet die Musik als sein Hobby; wer auf Reisen geht, braucht beim Grenzübertritt in Europa keinen Pass mehr und bleibt selbst auf der Bildungsreise noch ein Tourist; wer Romane liest, orientiert sich weniger an einem Kanon als an einer Bestsellerliste. Die Aktivitäten sind oft noch dieselben wie vor einhundert Jahren, aber sie folgen nicht länger einem existenziellen Bildungsideal: Das Subjekt formt sich nicht mehr nach einer allgemeinen kulturell akzeptierten Idee, sondern sucht nach dem, was ihm gut tut oder dem beruflichen Fortkommen dient. Diesen zwielichtigen Übergang, wo ein Gegenstand wie ein Konzertflügel physisch noch vorhanden ist, aber seine kulturelle Bedeutung bereits verloren hat, scheinen die Gemälde festhalten zu wollen. Die humanistischen Bildungsgegenstände existieren nur noch als ein Schatten ihrer selbst. Insofern könnte man Edite Grinbergas Schattenbilder auch als ein modernes Höhlengleichnis lesen.
Es ist sicherlich nicht Sinn und Zweck der Kunst, solche historischen Entwicklungen zu beklagen, aber es bleibt ihre Aufgabe, die Welt so zu zeigen, wie sie geworden ist. Hierin finden Edite Grinbergas Schattenbilder ihren ästhetischen Gehalt, der sich in vielen verschiedenen Objekten und Konstellationen zeigen kann. Zwar sind die in den letzten Jahren entstandenen Bilderzyklen facettenreich und enthalten eine ganze Reihe von Sujets, die sich nicht unmittelbar in dieser Weise interpretieren lassen. Doch es sind die Bilder mit den markanten ›Bildungsgegenständen‹, welche im Zentrum des Werkes stehen. Sie strahlen auch auf jene Objekte aus, welche mit dem Thema auf den ersten Blick kaum etwas zu tun haben, wie etwa eine Strickjacke, die auf einem Bügel hängt, oder Gardinen, die in den Raum hinein geweht werden. Aufschlussreich ist auch ein Vergleich mit dem Werk des dänischen Malers Vilhelm Hammershøi (1864 – 1916), das für die Malerin einen wichtigen Bezugspunkt darstellt. Sowohl thematisch als auch ästhetisch lassen sich hier viele Ähnlichkeiten feststellen: auch bei Hammershøi ist es die bürgerliche Wohnung, in die das Außenlicht durch die Fensterfronten einfällt und zu starken Licht- und Schattenkontrasten in den Innenräumen führt. Auch diese Bilder sind von einer schwermütigen Leere und Stille ergriffen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: aus den Bildern von Edite Grinberga sind die Menschen verschwunden, die bei den älteren Vor-Bildern noch zu sehen sind. Auch wenn sich in beiden Werken die gleiche Verlusterfahrung artikuliert, so hat sie sich jetzt noch einmal radikalisiert.
Edite Grinbergas Schattenbilder werfen zweifellos einen melancholischen Blick zurück in die Geschichte. Doch Kunstwerke haben manchmal einen langen Atem und können in anderen Zeiten auch andere Sinnschichten anlagern, insbesondere wenn sich der kulturelle Wandel so dramatisch wie heute vollzieht. So wie im 18. und 19. Jahrhundert eine industrielle Revolution die Gesellschaft transformierte und nicht zuletzt jenes Bürgertum mit seinen Bildungsidealen hervorbrachte, so wird sie heute von einer digitalen Revolution erschüttert, die nach der physischen nun auch die intellektuelle Arbeit rationalisiert. Auch die traditionellen Kulturmedien wie das Buch, das Musikinstrument und das Gemälde werden von dieser Revolution erfasst; der Zugang zu ihnen wird demokratisiert, sie werden aber auch ökonomisch entwertet und funktionieren nicht länger als bürgerliche Statussymbole. Die Frage, welche Rolle welche Bücher, Bilder und Musikstücke in einer durch die Digitalisierung geprägten Kultur spielen werden, stellt sich dann noch einmal neu. Aus diesem Blickwinkel wirken Edite Grinbergas Gemälde wie Erinnerungsbilder an eine Zukunft, die gerade erst begonnen hat.